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Eine Version von Umkehrung

Was auf der Matte passiert, sollte sich in unserer Vision für diese Welt und unseren Handlungen in dieser widerspiegeln. Wenn wir an Umkehrhaltungen denken, dann erscheinen meistens die typischen Bilder vom Handstand (adho mukha vrkshāsana), Unterarmstand (pincha mayurāsana) und unterstützten Kopfstand (salamba śirsāsana) vor unserem inneren Auge. Man würde dabei vermutlich selten an Wohlstandsverteilung, Müllreduzierung oder die Abschaffung der Massentierhaltung denken. Wenn du „Umkehrungen“ rein Asana bezogen und auf die Praxis im Yoga Studio beschränkt verstehst, kann das zwar ein Anfang sein, ist aber längst nicht alles. Ein interessanter Aspekt ist, dass die kraftvollste Umkehrhaltung nicht eine āsana, sondern ein mudra ist: vīparita karani wird in der Bihar Version der Hatha Yoga Pradipika übersetzt als “Einstellungen umkehrend“.

Im Grunde haben alle āsanas, die unseren Körper umdrehen, das Potenzial, unsere Einstellungen, Gemütszustände oder Gefühle direkt widerzuspiegeln. Sie werfen Licht auf unsere Tendenzen und Vorstellungen. Besonders auf solche, die wir aus unserem Geist oder Verstand hervorgebracht haben. Wenn wir uns umkehren, ist auch unsere Beziehung zur Realität auf den Kopf gestellt. Das kann Gefühle wie Angst oder sogar Minderwertigkeit und Schwäche hervorrufen. Wenn Umkehrhaltungen jedoch in einer sicheren Art und Weise geübt werden, mit klarer Anleitung, löst die Angst sich auf und Stärke entsteht. Geändertes Verhalten führt auch zu geänderter Wahrnehmung. Durch regelmäßige Praxis können wir lernen, uns in der neuen Weltsicht gut, standhaft und befähigt zu fühlen.

Die Asanapraxis hilft dabei, uns mit unserem eigenen Weltbild zu konfrontieren. Eventuell sehen wir dann, wo wir diesen Umkehrprozess in einem weiteren und tieferen Verständnis umsetzen können. Die Kraft und mentale Stärke, welche wir brauchen, um beängstigende Situationen wie den freistehenden Handstand zu meistern, können und sollten wir ins echte Leben mitnehmen. Sich gegen die Missstände in unserer Umwelt auszusprechen kann beängstigend sein. Wir fürchten uns davor, von Freunden und Familie verachtet zu werden, wenn wir es tatsächlich wagen. Vielleicht sehen wir, dass unser Lebensstil einen unverhältnismäßigen Schaden in der Umwelt anrichtet, doch wir wissen nicht, wie wir einen gesünderen, weniger schädlichen umsetzen können. All´ das kann Angst machen und wir verlieren das Gefühl dafür, wer wir eigentlich sind. In diesen Momenten können die Nachwirkungen der āsana Praxis uns an unsere Widerstandskraft erinnern. Durch Praxis und Geduld wird klar, was richtig ist und wir haben den Mut, uns zu entscheiden. Dinge, die vielleicht einmal unmöglich erschienen, sind jetzt möglich. Das Unerreichbare gelangt greifbar in unsere Nähe.

Wie in allen Veränderungsprozessen ist Vorbereitung von großer Bedeutung. Sonst laufen wir Gefahr, nicht nur uns Selbst, sondern auch unsere Umwelt zu überlasten und damit das Potenzial jeder Aktion zu unterbinden. Die Hatha Yoga Pradipika bezieht sich konkret auf die normale Bewegung des Bewusstseins von oben nach unten im Körper. Beginnend im Schädel und abwärts fließend – mit Verlust auf dem Weg dorthin. Wir haben alle schon die Erfahrung gemacht, dass Personen, Orte oder Umgebungen unsere Energie negativ beeinflussen können und wir uns ausgelaugt fühlen. Was wir essen und womit wir uns beschäftigen (Filme, Bücher, Magazine etc) kann unseren „Angstspeicher“ entweder aufladen oder entleeren. Selbst eine schlecht geplante Asanaklasse kann uns erschöpfter werden lassen, als wir es vorher waren. Wir wollen eine Praxis, Ernährung, Freundschaften und Jobs, die uns helfen, unsere Energie zu steigern und unser Bewusstsein zu weiten. Wir wollen, dass jede Praxis uns ein größeres Gefühl von Ganzheit und Einheit vermittelt.

Eine yogische Praxis beginnt stets mit dem Selbst und strahlt nach außen in unsere Beziehungen mit anderen. Nutze diese kostbaren Momente in der Umkehrhaltung, um die Welt mit neuen Augen zu sehen. Bleib offen für den Effekt jeder āsana und geh in den Dialog, indem du Allem zuhörst was aufkommt. Ziel ist niemals, eine lange Liste an Zirkustricks zu beherrschen, sondern die Unklarheiten in unserer Sicht auf die Welt und Hemmungen in unserem Tatendrang zu beseitigen.

Original : Jules Febre, NYC

Übersetzung ins Deutsche: Dana Sertel
Peace Yoga Berlin – Jivamukti Yoga School